2x 50 Jahre - Ein Babyboomer erzählt
Als meine Mutter vor mehr als 50 Jahren entschied, dass ich auf die Lise-Meitner-Schule gehen sollte, war ich unglücklich: Ich wollte mit meinen Freunden, den Jungs aus der Grundschule, das benachbarte CD-Gymnasium besuchen. Denn die gerade eingeführte Koedukation funktionierte nicht so richtig: In der Lise-Meitner-Schule waren die Mädchen in den viel zu großen Klassen weit in der Überzahl. Außerdem fehlte es an Platz, so dass in Behelfsklassenräumen im Stadtpark unterrichtet wurde.
Aber meine Mutter hatte Recht. Die Lise-Meitner-Schule würde mich auf die richtigen Gleise für mein späteres Leben setzen.
Kleiner Exkurs: Und welche Rolle spielte Lise Meitner? Während meiner Schulzeit erfuhr ich nicht viel über sie. Es hieß, sie sei die Assistentin eines anderen berühmten Wissen-schaftlers gewesen: Otto Hahn. Deshalb stellte ich mir sie als Sekretärin vor, wie die netten Frauen, die sich im Schulsekretariat um uns Schülerinnen und Schüler kümmerten. Erst Jahre später erfuhr ich, dass auch Lise Meitner für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war und selbst zahlreiche wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten hatte. 1938 musste sie aus Berlin fliehen. Die Nazis machten sie zur Geflüchteten und sie sollte nie mehr zurückkehren.
So wurde Lise Meitner zwar zur Namensgeberin der Schule, aber leider nicht zum Vorbild für ihre Schülerinnen ünd Schüler. 1973 feierte die Schule ihr 50-jähriges Jubiläum. Den Zeitungsartikel über ihren Sohn, den „kleinen Auktionator“, hob meine Mutter bis an ihr Lebensende auf. Wir waren angekommen.
Trotz ihrer Geschichte als Mädchengymnasium war die Schulleitung in den 70er Jahren ausschließlich männlich. Das war halt damals so. Aber es gab eine Reihe von hervorragenden Lehrerinnen an der Lise-Meitner-Schule, die mich und andere geprägt haben. Sie waren meist jung und kamen frisch von der Universität. Als erstes boten sie uns Schülern das „Du“ an. Sie wollten uns nicht zu Untertanen erziehen, sondern zu jungen Bürgern. Sie schärften unseren Blick für die Dinge außerhalb des Lehrplans und ermutigten uns zum Engagement für soziale Gerechtigkeit, Umwelt und Kultur.
Sie weckten unser Interesse für Angelegenheiten jenseits des Leverkusener Horizonts. Mit ihnen fuhren wir zum Schüleraustausch nach Valence und auf Abifahrt nach London. Nach dem Abitur zog es mich zunächst zum Zivildienst nach Köln und dann zum Studium nach Westberlin und England. Das Rüstzeug meiner Schuljahre war vollkommen ausreichend, um dort zu bestehen.
Dann, in den ersten Jahren meines Berufslebens, wie durch ein unsichtbares Band mit meiner alten Schule verbunden, traf ich auf wichtige weibliche Vorgesetzte und Mentorinnen. Mit ihrer Unterstützung (und den guten Fremdsprachenkenntnissen in Englisch und Französisch aus meiner Leverkusener Schulzeit) verließ ich Berlin und Deutschland für die nächsten 30 Jahre.
Alten Leuten sagt man nach, dass sie die Vergangenheit verklären. Das mag sein. Dennoch bin ich mir auch nach 50 Jahren sicher, dass meine Zeit an der Lise-Meitner-Schule ein Glücksfall war, eine Schule des Lebens und des Miteinanders, der Hard und Soft Skills, die mich über alle Kontinente begleitet hat. Deshalb rufe ich den Schülerinnen und Schülern von heute zu: 100 Jahre Lise-Meitner-Schule? Das ist ja krass! Aber freut euch, dass ihr dabei seid!
Karl Steinacker wurde 1960 in Leverkusen geboren. Von 1970 bis 1979 war er Schüler an der Lise-Meitner-Schule. Heute lebt er in Berlin. Wer mehr über ihn wissen will, schaut hier nach: www.karl-steinacker.digital/biographical-note